von Andreas Müller, StR CBG
am 5. Juni 2023
Gut gelaunt und neugierig begann der Tag auf dem Bahnhofsvorplatz in Erkner um 7.25 Uhr. Unser erstes Ziel war das MfS, ein mächtiger, er- und bedrückender Gebäudekomplex am U-Bahnhof Magdalenenstraße. Hier übernahm Frau Bettina Altendorf die 22 Schüler für das Einführungsgespräch, um einerseits den Wissenstand der Schüler zu ermitteln und andererseits den Blick auf das Thema zu vertiefen. Nach dieser „entspannten“ halben Stunde jedoch ging’s zur Sache.
In selbstgewählter Aufteilung gingen die 15- bis 16-Jährigen dann in die Arbeitsgruppen, bei denen eine Argumentation zum Pro oder Kontra einer Leitfrage erstellt werden musste, um die anschließende Debatte inhaltlich zu untermauern. Mit Konzentration und Elan waren die jugendlichen „Historiker“ dann am Werk, stießen auf den eigenen Horizont erweiternde Aspekte und reale Schicksale gleichalter Jugendlicher in der DDR. In diesem Moment verringerte sich die Distanz zur Geschichte auf ungewohnte Weise.
Die realen Begebenheiten reichten von der akribisch vorbereiteten Stasi-Befragung einer Schülerin im Direktorenzimmer bis hin zu zwei 15-Jährigen, auf die an der Grenze geschossen wurde. Einer der beiden erlag seinen Verletzungen, sodass dessen vollständiges Lebensumfeld von der Stasi zum Schweigen verpflichtet werden musste. Diese Exemplarität machte den historischen Abstand wett, machte das Unrecht konkret greifbar, schärfte den Stellenwert unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Verständnis der Schüler.
Den präsentierten Argumentationen folgte eine Diskussion, für die die Schüler ihre vorherige Rolle verlassen und nach Sach- und Werturteil individuell ihre Befunde einbringen konnten. Dabei blitzten auch immer wieder Erkenntnisse auf, die bereits im Literaturunterricht heiß diskutiert worden waren, wie bspw. die Freiheit des Einzelnen und der Kampf gegen obrigkeitliches Unrecht (Schillers „Wilhelm Tell“), Überwachungsstaat und Totalitarismus (Orwells „1948“), nicht zuletzt das konkrete Vorgehen gegen Systemgegner und die Auswirkungen auf den Betroffenen (Zweigs „Schachnovelle“).
Zuletzt bekamen die Schüler die Ausstellung zu den Stasi-Unterlagen sowie das Archiv selbst zu sehen. Nach verwinkelten Gängen, einer Fahrstuhlfahrt tief im Inneren des Gebäudes und in besonderer Begleitung standen die Schüler der 10b in einem der Archivräume, durften einen Blick in ausgewählte und teils geschwärzte Unterlagen werfen und noch spezielle Fragen stellen. In den Vorgängen zu schmökern, wenn auch nur kurz, verdeutlichte das Ausmaß der staatlichen Bespitzelung des Bürgers.
Am Ende, die Zeit von 8 bis 13 Uhr war zwar fordernd, aber doch wie im Flug verstrichen. Frau Altendorf dankte für den differenzierten Austausch und einige neue Blickwinkel, die die Schüler ihr erschlossen hätten. Nun hieß es nach der Anstrengung jedoch erst einmal: Mittagpause und Transfer.
In der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen traten die meisten Schüler vermutlich das erste Mal durch ein Gefängnistor, passierten Mauern, die zahlreichen Häftlingen des Systems den Weg in die Freiheit versperrt hatten. Nach einem kurzen Einführungsfilm übernahm Michael Bradler unsere Gruppe und führte uns durch die Entwicklungsphasen der Anstalt. Dabei berichtete der ehemalige Insasse von der Zeit als Gefängnis der sowjetischen Militäradministration ab 1945 und natürlich der Nutzung durch die Staatssicherheit der DDR.
Er verwies auf die zahlreichen Opfer der kommunistischen und später sozialistischen Herrschaft in Ostdeutschland, erschütterte mit sowjetischen Todesurteilen gegen 13-Jährige wegen etwas Farbe auf einem Stalin-Bild und zeichnete ein eindringliches Bild von den menschenunwürdigen Zuständen der Anfangsjahre im Gefängnis. Noch eindringlicher wurde es für die gebannt lauschende 10b, als Bradler seine eigene Geschichte erzählte, die Geschichte eines zunächst Überzeugten, der als Jugendlicher den Glauben verloren hatte und deshalb ausreisen wollte.
Nach mehreren Ausreiseanträgen des 20-Jährigen und einem Ausreiseversuch war Bradler kurze Zeit später, 1982, in Hohenschönhausen gelandet – dass er dort war, erfuhr er eher zufällig erst nach 1989 bei einem Besuch der Gedenkstätte, als er den Ort wiedererkannte. Mehrere Monate war er hier inhaftiert, wurde schließlich zu einer Haftstrafe verurteilt und von der Bundesrepublik freigekauft. Noch heute kennt er seine drei Zellennummern. Bedrückend wirkten die Gummizellen sowie eines der beengten Transportfahrzeuge für Gefangene, die Bradler auf der Führung präsentierte. Selbst die zwischenzeitlich vergrößerten Freiluftzellen erscheinen noch heute nur als schwacher Ersatz für reale Freiheit, wenngleich die Alternative einer Isolationshaft wohl kaum vorzuziehen war.
Gegen 16.45 Uhr verließen die Schüler der 10b die Gedenkstätte, wurden außerhalb der Mauern gewissermaßen wieder in die Freiheit entlassen und konnten mit neuen Eindrücken und Gesprächsstoff ins Wochenende ziehen. Sicherlich waren sie auch dankbar darüber, dass die Zeit des Unrechtsregimes der DDR hinter ihnen liegt und in unseren Tagen nur dem kritischen Diskurs und der Mahnung dient.
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